Prof. Georg Cremer
Über den Sozialstaat werde im Duktus des Niedergangs gesprochen, als sei er in den vergangenen Jahrzehnten abgebaut worden. Dass dies faktisch nicht so ist, zeigte Georg Cremer anhand von Zahlen und diversen Beispielen. So hat die Große Koalition nicht nur den Mindestlohn eingeführt, sondern auch die Mütterrente und den Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende ausgeweitet, das Elterngeld Plus eingeführt und auch für pflegende Angehörige und behinderte Menschen finanzielle Verbesserungen erreicht. Das Sozialbudget beträgt rund 1000 Milliarden Euro jährlich.
In den 1990er Jahren sei die Pflegeversicherung aufgebaut worden, das Rentensystem angepasst und das Angebot an Kindertagesstätten massiv ausgeweitet. Auch die Jugend- und Behindertenhilfe sowie Beratungsdienste seien deutlich verbessert worden.
Das Sozialsystem sei komplex, aber gerade die Finanzierungsfrage werde von vielen banalisiert, beispielsweise mit Verweis auf "den Staat". "Aber es gibt keinen Staat, mit dem sich Bürger die Lasten teilen könnten; auch die Steuern müssen von ihnen aufgebracht werden." Mit dieser Banalisierung machten es sich die Diskussionsteilnehmenden sehr bequem, da sie sich der Aufgabe entzögen, zwischen mehreren gerechtfertigten Anliegen Prioritäten zu setzen.
Die faktenwidrige Rede vom ständigen Sozialabbau sei Wasser auf den Mühlen populistischer Kräfte, warnte Cremer. "Die mobilisieren mit der Verleumdung, die Politik würde sich um die Belange des Volkes nicht kümmern. Sie verstärkt Abstiegs- und Zukunftsängste. Das ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt." Stattdessen müssten Empathie, Engagement und Faktentreue zusammengebracht werden.
Nichts desto weniger sei die Einkommensverteilung heute ungleicher als in den 1990er Jahren, und es gebe in Deutschland große Gerechtigkeitsdefizite. Insbesondere forderte er, Familien am unteren Rand der Mitte und Menschen mit niedriger Rente zu stärken. Für Familien schlug er eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung vor. Für Menschen im Alter sollten Grundsicherung und Rente klug kombiniert werden. Außerdem sei mehr Information nötig: "Es sollte Anspruch sein, dass alle, die Anspruch auf Hilfe haben, sie auch erhalten."
Auf die Frage eines Zuhörers, was Cremer im Rahmen der Kommunalpolitik davon halte, Bedürftige zum Beispiel durch Vergünstigungen im öffentlichen Nahverkehr zu unterstützen, sprach dieser sich dafür aus, lieber in Prävention zu investieren und die soziale Infrastruktur nachhaltig zu stärken und auszubauen.